Wölfe und Wissenschaft -

Wie wird sich die Wolfspopulation in den nächsten 100 Jahren in Deutschland entwickeln?

Eine Populationsgefährdungsanalyse.

Vor kurzem hat die Bundesregierung der EU gemeldet, dass der günstige Erhaltungszustand der Wolfspopulation in Deutschland erreicht sei, obwohl noch nicht alle geeigneten Habitate durch Wölfe besiedelt sind. Besonders im Südwesten und Süden Deutschlands gibt es nur wenige Wolfsterritorien. Der günstige Erhaltungszustand setzt voraus „dass aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass die Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird sowie ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern“ (Art. 1i, Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie). Deutschland ist nach EU Recht verpflichtet den günstigen Erhaltungszustand, zum Beispiel durch die Jagd, nicht zu gefährden. Auf der Basis dieser Vorgaben haben Stephanie Kramer-Schadt und KollegInnen ein Modell entwickelt welches die zukünftige Entwicklung der Wolfspopulation unter verschiedenen Gefährdungsszenarien beschreibt. Die Ergebnisse dieser Populationsgefährdungsanalyse sind in Abbildung 1 zusammengefasst. Die Szenarien werden im Folgenden noch näher erläutert.

Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl der Territorien in der deutschen Wolfspopulation unter verschiedenen Szenarien und 100 Simulationen. Die dicken Linien stellen den durchschnittlichen Wert der einzelnen Szenarien dar. Die Szenarien (Abkürzung „sc“) wurden z.T. miteinander kombiniert bzw. mit verschiedenen Abstufungen berechnet (u.a. Szenario 2 „sc2“ in Bezug auf die Mortalitätsräte). Das helle Band zeigt das 95%-Konfidenzintervall. Siehe Text für eine detaillierte Erläuterung der Szenario-IDs. 

Datengrundlage und Populationsmodell
Um das Modell zu entwickeln und zu testen, wurden Daten über die Entwicklung der deutschen Wolfspopulation in den Jahren 2005 bis 2020 herangezogen. Diese Daten schließen Habitateignung, Abwanderung (Dispersal), Territoriensuche, Reproduktion, Mortalität und externe Einflüsse ein (Abbildung 2). Aus diesen Daten wurde ein Modell entwickelt welches die Entwicklung der deutschen Wolfspopulation in den Jahren 2005 bis 2020 korrekt beschreibt und es wurden Szenarien entwickelt wie sich die Wolfpopulation in den nächsten 100 Jahren entwickeln wird. Auf der Grundlage vorhandener Daten aus den Jahren 2005 bis 2020 sowie weiteren Literaturrecherchen wurden die folgenden Parameter bestimmt unter denen sich die Wolfpopulation in Deutschland bisher entwickelt hat. Die Habitateignung wurde einer früheren Arbeit zur Habitatmodellierung entnommen wobei die aktuelle Arbeit von 550 geeigneten Territorien ausgeht. Zum Zeitpunkt der Modellentwicklung waren 187 Territorien besetzt. Die Territorien, die von einem sich reproduzierenden Paar besetzt sind, haben jedes Jahr eine Chance von 88 % zur Reproduktion. Das heißt von 100 Paaren bekommen 88 Nachwuchs. Wenn das reproduzierende Paar erfolgreich ist, wird eine Anzahl von Juvenilen geboren, die auf einem Mittelwert von 4 beruht. Das Geschlecht der Juvenile wird nach dem Zufallsprinzip zugewiesen und beträgt 1:1. Die maximale Anzahl von Individuen in einem Territorium beträgt 10 Tiere. Subadulte Tiere wandern ab dem Alter von 12 Monaten aus dem elterlichen Territorium ab.

Die demografischen Daten, die in das Populationsmodell einfließen, sind folgende: jährliche Überlebenswahrscheinlichkeiten der Adulten (0,87), der Subadulten (0,75) und der Juvenilen (0,75). Überlebenswahrscheinlichkeit bzw Überlebensrate bedeutet, dass von 100 adulten Wölfen 87 überleben und entsprechend von 100 Subadulten und Juvenilen jeweils 75. Das durchschnittliche Lebensalter der Wölfe wurde auf der Grundlage vorhandener Daten mit 146 Wochen oder 2,8 Jahren bestimmt, mit einem maximal beobachteten Alter von 662 Wochen oder 12,7 Jahren. Diese Parameter gelten für die sich in den Jahren 2005 bis 2020 in Deutschland ausbreitende Wolfspopulation. Wenn sich diese Parameter nicht verändern, sollten in den nächsten Jahren alle auf der Basis der Habitatanalyse geeigneten Territorien in Deutschland besiedelt sein (Szenario 1, sc1, Abbildung 1). Mit diesem Modell wurden verschiedene Gefährdungsszenarien durchgespielt, die zeigen, dass es bei erhöhter Sterblichkeit zu einer Verlangsamung der Vermehrungsrate und sogar zu einem Aussterben der Population kommen kann.

Abbildung 2: Schematische Darstellung der einzelnen Schritte, die zur Entwicklung des räumlich-expliziten individuenbasierten Modells (IBM) für die deutsche Wolfspopulation führen.

Die Prognose-Szenarien
Die Entwicklung der Wolfspopulation in Deutschland wurde für die nächsten 100 Jahre (20-Generationen) unter verschiedenen Szenarien prognostiziert. Die Szenarien wurden so ausgewählt, dass sie potenzielle Veränderungen der natürlichen Bedingungen sowie Naturkatastrophen in einem realistischen Rahmen darstellen. Die verschiedenen Szenarien sind in der folgenden Tabelle aufgeführt. Das Basisszenario basiert auf den im Zeitraum von 2005 bis 2020 festgestellten Mortalitäts- und Reproduktionsraten in Deutschland. Das Szenario 2 prognostiziert die Populationsentwicklung bei erhöhter Sterblichkeit. Sc2_m10 geht von einer erhöhten Sterblichkeit von 10% im Vergleich zum Basisszenario aus. Analog wurden Szenarien mit einer erhöhten Sterblichkeit von 18%, 21%, 22%, 23% und 25% prognostiziert. Beim Szenario 3 kommt es zu einer Reduktion der Reproduktion um 50%. Das heißt in nur 50% der Territorien kommt es überhaupt zu einer erfolgreichen Reproduktion. Beim Szenario 4 wird zusätzlich ein Verlust von 10% der reproduzierenden Fähen alle 5 Jahre angenommen und im Szenario 5 wird der Ausbruch einer Umweltkatastrophe mit einer Ausbruchswahrscheinlichkeit alle 34 Jahre angenommen. Ein solches Katastrophenszenario kann durch eine Seuche verursacht werden und es wird angenommen, dass sie zu einer Mortalität von bis zu 50% über alle Altersklassen führt. 

Ergebnisse
Von den veschiedenen Szenarien werden im Folgenden nicht alle aus der Arbeit wiedergegeben, sondern es wurden beispielhaft diejenigen ausgewählt bei denen es keinen oder nur einen geringen negativen Einfluss auf die Population gibt (Abbildung 3) und solche bei denen die Population gefährdet ist (Abbildung 4). Die Ergebnisse machen deutlich, dass es bei dem bestehenden Basisszenario, das heißt der aktuellen Mortalitäts- und Vermehrungsrate nicht zu einer Gefährdung der Population kommt (sc1, Abbildung 3). Selbst in Kombination mit einer erhöhten Mortalität, wie sie durch die Szenarien 2_m10, 3, und 4 prognostiziert werden, kommt es nicht zu einer Gefährdung, sondern höchstens zu einer Verringerung der besetzten Territorien. Sogar bei einer Kombination mit einem Katastrophenszenario (sc1_sc5) welches alle 34 Jahre angenommen wird, kann die Population sich erholen.
Anders sieht es aus, wenn die Mortalitätsrate steigt (Abbildung 4). Bei einer erhöhten Mortalität um 10% (sc2_m10) kommt es immer noch zu einer Besiedlung aller geeigneten Territorien ohne einen Einfluss auf die Populationsentwicklung. Bei einer erhöhten Mortalitätsrate um 18 und 21% wird der negative Effekt sichtbar. Zwar vermehrt sich die Population noch, doch kommt es nicht mehr zur Besiedlung aller geeigneten Territorien. Steigen die Mortalitätsraten weiter, kann es langfritig (sc2_m22), mittelfristig (sc2_m23) und relativ kurzfristig (sc2_m25) zu einem Aussterben der Population kommen.
Zusammenfassend bedeutet dies, dass bei einer Steigerung der Mortalitätsrate um 22% und darüber im Vergleich zur Basismortalität (sc1) das Überleben der Wolfspopulation in Deutschland stark gefährdet ist. Aus Tabelle 4 der Originalarbeit geht hervor, dass dann die Überlebensrate adulter Wölfe auf 0,68 und darunter fällt. Das heißt, wenn weniger wie 7 von 10 adulten Tieren überleben kommt es zum Aussterben der Population.  

Abbildung 3. Entwicklung der Anzahl der Territorien mit potentieller Reproduktion (keine Territorien ein- zelner Wölfe) in der deutschen Wolfspopulation unter verschiedenen Szenarien. Die dicken Linien stellen den durchschnittlichen Wert der einzelnen Szenarien dar. Siehe Tabelle für eine detaillierte Erläuterung der Szenario-ID. Szenario 1 mit den Kombinationen sc3, sc4 und sc5 sowie sc2 mit einer Verringerung der Überlebenswahrscheinlichkeit um 10 %. Entnommen der Abbildung 9b der Originalarbeit.
Abbildung 4. Entwicklung der Anzahl der Territorien mit potentieller Reproduktion (keine Territorien einzelner Wölfe) in der deutschen Wolfspopulation unter verschiedenen Szenarien. Die dicken Linien stellen den durchschnittlichen Wert der einzelnen Szenarien dar. Siehe Tabelle für eine detaillierte Erläuterung der Szenario-ID. Szenario 2 mit einer kontinuierlichen Verringerung der Überlebenswahrscheinlichkeit (lokale Sensitivitätsanalyse). Entnommen der Abbildung 9c der Originalarbeit.
b) Szenario 1 mit den Kombinationen sc3, sc4 und sc5 sowie sc2 mit einer Verringerung der Überlebenswahrscheinlichkeit um 10 %.
Abbildung 4. Entwicklung der Anzahl der Territorien mit potentieller Reproduktion (keine Territorien einzelner Wölfe) in der deutschen Wolfspopulation unter verschiedenen Szenarien. 
c) Szenario 2 mit einer kontinuierlichen Verringerung der Überlebenswahrscheinlichkeit (lokale Sensitivitätsanalyse)

Fazit aus Sicht der Wolfsschützer
Mit der Erklärung des günstigen Erhaltungszustandes beim Wolf und des dadurch angeblich erleichterten Abschusses, besteht eine große Gefahr für die künftige Entwicklung der Wolfspopulation. Bei einer erhöhten Mortalitätsrate von 18 und 21% ist bereits eine deutliche Verringerung der Wolfsterritorien im Vergleich zu allen geeigneten Habitaten zu beobachten. Sobald jährlich mehr wie 30% der Wölfe legal oder illegal geschossen werden, kommt es zum Aussterben der Wolfspopulation. Um zu kontrollieren für wieviel Wölfe Abschussgenehmigungen erteilt werden ist eine öffentliche Bekanntmachung und Dokumentation sehr wichtig damit bei einer Gefährdung der Wolfspopulation durch Abschuss, was gegen die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie verstößt, vorgegangen werden kann. Ein besonders großes Problem ist die Zunahme illegaler Abschüsse. Hier haben Wolfsschützer durch eigenes Monitoring bereits eine deutliche Zunahme festgestellt. Sobald ganze Wolfsrudel verschwinden sollte dies auch in den offiziellen Monitoringdaten dokumentiert sein. Illegale Abschüsse werden in Zukunft ein noch größeres Problem sein als sie bereits schon sind und werden zu einer deutlichen Zunahme der Mortalität führen, was die Existenz der Wolfspopulation erheblich gefährden wird.

Stephanie Kramer-Schadt, Aimara Planillom Conny Landgraf, Julie Louvrier, Carla Osterburg, Konstantin Börner, Sebastian Collet, Gregor Rolsgausen, Gesa Kluth, Ilka Reinhardt, Carsten Nowak, Götz Ellwanger, Katharina Steyer (2024) Populationsgefährdungsanalyse für die Art Wolf (Anhang II und IV FFH-Richtlinie), Bundesamt für Naturschutz-Schriften, 715 https://doi.org/10.19217/skr715 


Link (Volltext / PDF-Download): https://bfn.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/1899/file/Schrift715.pdf